Der Nachlass Leopold Zunz bildet das Kernstück des Leopold-Zunz-Archivs und enthält Lebensdokumente zu Zunz und seiner Frau Adelheid geb. Beer und beider Familien, Materialien zu Zunz’ beruflicher, gesellschaftlicher und politischer Tätigkeit, seine zahlreichen Schriften in verschiedenen Ausreifungsgraden, die Korrespondenz mit Freunden und zeitgenössischen Gelehrten, eine Sammlung hebräischer Texte sowie Materialien anderer zu Zunz.
„Als ich fünf J. Alt war, sang ich Draur Jikro auswendig, begann ich den Talmud. Bei meinem Vater lernte ich hebr. Grammatik, Pentateuch und jüdisch Schreiben. Zu den ältesten Melodien, die sich mir einprägten, gehört die der Marseillaise. Die ersten Bildnisse, deren ich mich erinnere, waren die in unserer Wohnstube hängenden von Bonaparte, Nelson und Suwarow.“ Mit diesen Erinnerungen an seine Kindheit beschrieb Leopold (Jomtob Lipman) Zunz, der 1794 in Detmold geboren wurde, gleichzeitig die drei Hauptmotive, die sein Leben bestimmten: Das Studium der jüdischen Quellen, die völlige Integration in die Umgebungskultur und das kompromisslose Engagement für revolutionäre Freiheitsbewegungen.
Nach dem Besuch der Samsonschen Freischule und des Gymnasiums in Wolfenbüttel schrieb sich Zunz 1815 an der Berliner Universität ein und wurde 1821 von der Universität Halle zum Doktor der Philosophie promoviert. Das Studium bei Friedrich August Wolf, August Boeckh und Wilhelm Martin Leberecht de Wette lenkte sein Interesse auf die Philologie, die zur Basis seines wissenschaftlichen Arbeitens werden sollte.
In seinem 1818 veröffentlichten Aufsatz „Etwas über die rabbinische Litteratur“, der als konstitutive Schrift der Wissenschaft des Judentums gilt, sind bereits die Grundideen seiner Arbeit identifizierbar: die Definition des Judentums als „Kulturvolk“, die Darstellung der in ihren Methoden universalen und ihren Themen partikularen Wissenschaft als Medium der Präsentation, Erhaltung und Weitergabe jüdischer Werke, der Glaube, daß nur ein wissenschaftlicher Zugang zu den Texten des Judentums eine adäquate Bewertung des Judentums und der Juden ermöglicht, sowie die Erstellung einer Art Enzyklopädie von Wissenschaften zur Behandlung jüdischer Themen in einem akademischen Rahmen – für die Etablierung der Wissenschaft des Judentums an einer Universität sollte Zunz allerdings sein Leben lang vergeblich kämpfen.
Eng verknüpft mit seinen wissenschaftlichen Themen war auch sein Engagement für die politische und religiöse Reform des Judentums. In seinem Aufsatz „Die Organisation der Israeliten in Deutschland“ (1819) entwarf er ein entsprechendes Programm und forderte, daß der Staat die Rabbiner nicht als Wortführer der jüdischen Öffentlichkeit anerkennen solle. In den folgenden Jahren versuchte Zunz, seine Ideen in den verschiedensten Bereichen der jüdischen Gemeinde zu verwirklichen: Zwischen 1821 und 1823 war er Prediger im reformierten Beerschen Tempel, in dem der deutsche Gottesdienst Programm war. Von 1826 bis 1830 leitete er die Jüdische Gemeindeschule und von 1840 bis 1850 das jüdische Lehrerseminar in Berlin.
Auch sein 1832 erschienenes, erstes umfangreiches wissenschaftliches Werk im Geiste der neuen Wissenschaft des Judentums – Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt – war nicht nur ein historischer Abriß der von Juden verfassten Literatur, sondern lieferte gleichzeitig Argumente zur Rechtfertigung der religiösen Reform. Später distanzierte Zunz sich von der Reformbewegung und ihren Grundsätzen; er kritisierte die Unterscheidung zwischen religiösem und nationalem Aspekt, warnte vor der Entwertung der jüdischen Vergangenheit und behauptete, das Reformlager begehe Selbstmord.
1845 veröffentlichte Zunz sein Buch Zur Geschichte und Literatur, und 1855 erschien mit Die synagogale Poesie des Mittelalters der erste Teil einer Trilogie, zu der auch Die Ritus des synagogalen Gottesdienstes, geschichtlich entwickelt (1858) und Literaturgeschichte der synagogalen Poesie (1865) gehören. In diesen Studien stellte Zunz das jüdische Volk als einen lebendigen Organismus dar und die Synagoge als Medium, in dem sich das kontinuierliche Schaffen dieses Volkes entwickelte und sein nationales Bewußtsein Bestand hatte. In den 1870er Jahren publizierte er seine Schriften zur Bibelkritik, einem weiteren langjährigen Schwerpunkt seines Schaffens. Zu dieser Zeit unternahm Zunz auch Reisen in Bibliotheken und Museen in ganz Europa und sammelte Handschriften und seltene Bücher, die die Basis einer umfangreichen Bibliographie bildeten.
Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit wirkte Zunz auch als Politiker. In den 1840er Jahren näherte er sich immer stärker den Ideen der demokratischen Bewegung an und rief zu einer gesamteuropäischen Revolution nach den Grundsätzen der Französischen Revolution auf, und auf seine spezielle Art und Weise stellte er die Idee des jüdischen Messianismus als Grundgedanken der westlichen Kultur dar. Im Unterschied zu seinen Vorgängern behauptete er, dass der Staat per definitionem den Juden volle Bürgerrechte zusichern muß, ohne von ihnen einen Verzicht auf irgendeinen der Werte des Judentums zu verlangen, und betonte, daß es keinerlei Widerspruch zwischen der politischen Loyalität der Juden gegenüber dem Staat und ihrer Loyalität gegenüber dem Judentum gebe. Von 1848 bis 1870 gehörte Zunz der liberal-demokratischen Bewegung an und wurde mehrmals zum Wahlmann für die Parlamentswahlen gewählt. In seinen Reden und Vorträgen unterstrich er immer wieder, daß die Revolution erst dann abgeschlossen ist, „[w]enn mit der Selbstregierung der Rechtsstaat in dem gesammten Europa aufgerichtet sein wird“.
Zunz unterhielt einen weitverzweigten Briefwechsel mit zahlreichen Zeitgenossen, u.a. mit seinem Wolfenbüttler Lehrer Samuel Meyer Ehrenberg und dessen Familie sowie mit Gelehrten wie Lazarus Bendavid, Abraham Geiger, David Kaufmann, Moritz Lazarus, Salomo Juda Rapoport, Samuel David Luzzatto oder Moritz Steinschneider. Diese Briefe geben Aufschluss über seine Persönlichkeit, seine Gefühlswelt und sein geistiges Schaffen.
Nach dem Tod seiner Frau Adelheid 1874 brach Zunz seine Studien ab und konzentrierte sich bis zu seinem Tod 1886 in Berlin auf die Veröffentlichung seiner Schriften.